Wenn der "Hier sind Sie" Punkt fehlt

Stockerauer Au, Weinviertel, Niederösterreich

Sonntagmorgen. Das Wetter ist durchwachsen wie ein feiner Speck. Auf der einen Seite Sonne, auf der anderen dichte Wolkendecke. Der Wetterbericht sagt für Nachmittag Regen. Zuhause bleiben wollen wir auch nicht, also krame ich in meinen gesammelten Wanderroutenvorschlägen.

Die Stockerauer Au mit dem hier beschriebenen nur 5 KM langen Lenau-Wohlfühl-Rundwanderweg wird unser Ziel. Mit der S-Bahn ab nach Stockerau und dann auf die Suche nach den kleinen Taferln, die den Lenauweg beschildern. Soweit alles in Ordnung.

Der Weg ist gemütlich und eben. Lt. Internet erwarten uns lediglich 35 Höhenmeter. Das alles sollte zu schaffen sein, wo doch auch noch ein Gasthaus am Weg liegt.

Am Ende des Schilfweges gibt es Frühstück

Der leicht verfärbte Herbstwald beruhigt unsere Großstadt-Betonwüsten geplagten Augen. Idyllisch ist der knapp 100 m lange Schilfweg. Schon bald erreichen wir das Gasthaus. Anscheinend sind wir den Weg verkehrt gegangen, denn ich habe die Internetbeschreibung des Stockerauer Au-Wohlfühlweges so in Erinnerung, zuerst wandern, dann futtern. Wurscht, ein Frühstück wäre jetzt ohnehin eine gute Idee. Sagen wir so, das Lokal ist recht rustikal einfach. Aber das Personal überaus freundlich.

Nach der Pause wandern wir weiter. Immer wieder gibt es kleine Abstecher zu schönen Plätzchen an den Wasserstellen. Nur keine wegweisenden Taferl mehr. Noch denken wir uns nichts. Nachdem es ohnehin nur einen Weg gibt, können wir nicht falsch sein.

Nach rund einer Stunde kommen wir zu einer Schautafel mitten im Wald. Hier fällt es mir zum ersten Mal auf, dass im Internet der Weg mit 5 KM, hier aber mit 7,5 KM angeführt ist. Eigentlich egal, solange der Weg eben durch herrlichstes Augebiet führt, für uns kein Problem.

Wo sind wir?

Irgendein so halbspaßiger Vollkoffer fand es in grauer Vorzeit aber total lustig, den "Hier sind Sie" Punkt mit nachhause zu nehmen. So steht die Tafel einsam mitten im Wald, zeigt eine Auswahl an Wanderwegen, jedoch nicht, wo man gerade steht. Somit kann man auch nicht entscheiden, weitergehen oder umdrehen. Und vor allem, ob man überhaupt am richtigen Weg ist.

Die Wanderkarte, die uns hier nichts zeigen will

Ich krame nach meiner Wanderkarte, die ich gleich am Beginn der Au bei der ersten großen Wanderkarte aus der vorhandenen Schütte mitgenommen habe. Tja, was soll ich sagen. Hier ist das ganze Weinviertel zu sehen, aber nicht der Lenauweg. Dass es einen eigenen Info-Folder der Gemeinde gibt, wo die Wanderwege der Stockerauer Au eingezeichnet sind, werde ich erst morgen bei meinen Recherchen erfahren. Warum dieser Folder nicht in der kleinen Plastikschütte aufliegt, ist mir ein Rätsel.

Gut, wir gehen weiter. Nachdem die Seitenwege ohnehin bis Ende März 21 forstliches Sperrgebiet sind, bleiben wir am offenen Hauptweg.

Wir passieren kleine und große Wasserstellen, überqueren eine Brücke, schlendern gut gelaunt auf Forststraßen durch den herrlichen Herbstwald. Hören dort mal einen Vogel schreien, lauschen den Knistern im Unterholz. Nur komisch, uns kommt kein anderer Wanderer entgegen. Scheint heute keine beliebte Wanderroute zu sein.

Die Schwammerlzucht

Wir passieren unzählige, meterhoch geschlichtete Holzstapel bis uns einer besonders ins Auge sticht. Es scheint, als gäbe es hier mitten im Wald eine geheime Pilzzucht. So etwas haben wir beide noch nie gesehen. Fast aus jeder Mitte der gefällten Bäume wachsen Schwammerl. Ein Mysterium, diese Natur.

Unser Weg führt weiter. Wir sehen ein riesiges Vogelnest und diskutieren über dessen Erbauer und Besitzer. Ziehen an einigen Hochständen vorüber und sind in der Annahme auf dem richtigen Rundwanderweg zu sein.

Komisch, die Zeit vergeht, der Wald bleibt hinter uns, wir erreichen eine Stelle, wo links ein eingezäunter Waldbereich und rechts ein grasbewachsener Deich ist. Wildschweine dürften hier auf der Suche nach Fressbaren gewesen sein.

Die Donauschwäne grüßen freundlich

Mein Schatz erkundet den Deich und ich hatte Recht, dahinter ist die Donau. Somit klettere ich auch hoch und schaue vier Schwänen ins Gesicht, die nach Futter Ausschau halten.

Und ich halte Ausschau nach einem markanten Punkt, um zu wissen, wo wir sind. Das Wetter ist mittlerweile grau, trüb und es riecht nach Regen.

Zum Glück gibt es endlich ein menschliches Wesen, einen Fischer. Achja, Stockerau? Tja, er weiß nur da weit vorne ist ein Kraftwerk und dort gibt es eine Straße Richtung Autobahn.

Wir gehen den Asphaltweg weiter. Irgendwann hole ich meine Wanderkarte aus dem Rucksack, und die letzten Schluck Mineralwasser. Tja, das Kraftwerk Greifenstein liegt vor uns. In weiter Ferne, geschätzt an die 3 - 4 KM, dort dann nach links, wieder rechts, wieder links, wieder rechts und gerade aus zum Bahnhof Stockerau. Oder nach links, links, links bis zum Bahnhof Spillern. Aber das wird noch dauernd.

Ich mag nicht mehr

Langsam kommt bei mir das trotzige Kleinkind durch. Am liebsten würde ich mich auf den Boden werfen, einen Wutanfall, gepaart mit einem Heulkrampf bekommen und auf Rettung warten. Ich gehe geistig unsere Freundesliste durch. Ok, Pilot vom Rettungshubschrauber ist keiner dabei. Also gehen wir weiter.

Mittlerweile baumelt meine Kamera nur noch arbeitslos in der Hand. Mir wäre jetzt sogar vollkommen wurscht, wenn sich der berühmte und seltene Auhirsch, den wir die ganze Zeit gesucht haben, vor mich stellt und mir die Fotosensation meines Lebens bieten würde. Ich würde ihm maximal die Kamera auf das Geweih hängen und sagen, er soll sie mir dann, inklusive voller Speicherkarte, irgendwann vorbeibringen.

Die Uhr sagt, dass wir nun schon über 3 Stunden Non-Stop unterwegs sind. Meine Füße sagen, sie sind schon seit einer Woche am berühmten Jakobsweg unterwegs.

Beim Kraftwerk ist der Treppelweg gesperrt und wir folgen die Zufahrtsstraße bis zu - oh Wunder - einem wahren Schilderwald.

Die kaiserliche Rettung

Wir entscheiden uns Richtung Kaiserrast, der Raststation an der Autobahn, zu marschieren. Dort mit letzter Kraft einzukehren, neue Energie zu tanken und dann entweder nach Spillern zum Bahnhof (was meine komische Wanderkarte für kürzer empfinden würde) oder nach Stockerau zum Bahnhof zu gehen.

Die Stärkung hat uns gut getan. Beim Bezahlen an der Kassa fragen wir den netten Mann, welcher Bahnhof schneller zu erreichen wäre. Anscheinend schauen wir, trotz unserer Corona-Masken, schon so mitleidserregend aus, dass er uns anbietet uns zu fahren. Mensch, wir schließen den Mann wohl für die nächsten 100 Jahre in unsere Wandergebete ein!! Der Regen klatscht an die Windschutzscheibe, während wir in Windeseile am Stockerauer Bahnhof ankommen! DANKE! DANKE! DANKE!

Bitte einen Türdefekt oder wenigstens eine Stunde Verspätung

Ich lasse mich in die roten Sessel der fast menschenleeren Schnellbahn fallen. Strecke alle Viere von mir und wünsche mir nichts sehnlicher als ein Türversagen und somit die Reise von Stockerau bis zum Zielort Wiener Neustadt und wieder zurück nach Floridsdorf.

Gut, es gibt kein Türversagen, nicht mal eine Verspätung. Aber den letzten Rest von der S-Bahn zur U-Bahn und weiter zur Straßenbahn nachhause schaffen wir jetzt auch noch.

Und wer sich jetzt wundert, weshalb wir nicht modern mit Handy unterwegs waren - tja, in der Au hatten wir keine Verbindung. Nach der Zeit, die wir unterwegs waren, ein wenig Recherche über die Stockerauer Au und die Nachfrage bei meinem Muskelkater waren es locker an die 22 KM, die wir geschafft haben.

Die Schmerzen werden vergehen, aber die schönen Erinnerungen an die atemberaubende Natur bleiben.

Bitte lasst die Wegweiser, Taferl, Punkte, Markierungen jeglicher Art in Ruhe

Nur eines wäre halt so wichtig: dass sich unsere so halblustigen Mitmenschen nicht an aufgestellten Wanderkarten, an Wegweisern oder an sonstigen Markierungen vergreifen, denn solche Aktionen können ordentlich ins Auge gehen.

Unsere allgemeinen Wandertipps: Großstadtwanderer

Fotos von Fotografin Renate

Transparenz

Wien, 12.10.2020