Der Vanillekipferltraum
Kurz überlege
ich: Laufen oder warten?
Ich habe mich gegen meine Bequemlichkeit entschieden und bin jetzt froh, der Straßenbahn noch nachgelaufen zu sein. Wer weiß, wie lange ich sonst in der Kälte auf die nächste Bim warten hätte müssen? Derzeit haben unsere Wiener Öffis nicht gerade den besten Ruf in Sachen Häufigkeit, Schnelligkeit und Einsamkeit.
Einsam bin ich in der vollgestopften Bim nicht. Ich stehe zwischen erster und zweiter Tür, und versuche so wenig Platz wie möglich einzunehmen. Zum Glück verabschieden sich in den nächsten Stationen relativ viele, vorweihnachtlich geplagte Gemüter und es wird leerer und ruhiger. Sehr ruhig, überraschenderweise.
Unsere Fahrerin lenkt das tonnenschwere Gefährt ruhig und sanft durch den leichten Großstadtschneefall. Ich schaue aus dem gräulich verschmierten Fenster und sehe die weißen Flocken um das rote Schienenfahrzeug tanzen. Sitzplatz ist noch immer keiner frei. Ich schaue durch den Innenraum, es ist so komisch ruhig. Keiner spricht mit einem anderen, keiner telefoniert. Alle sitzen schweigend. Nur ganz hinten weint ein Kleinkind.
Mir ist fad, ich nestle an meiner Jacke, meine Finger fahren in die Innentasche der dicken Winterjacke. Jene, die nicht ins Handy vertieft sind, starren mich erwartungsvoll an. Trotz der weißen und schwarzen Masken in den Gesichtern, sehe ich, dass ein Herr in meiner Nähe nervös wird. Er rutscht leicht hin und her. Wahrscheinlich hofft er, dass die nächste Station rasch erreicht wird. Wir stehen aber im vorweihnachtlichen-es-schneit-in-Wien-Chaos.
Geh verdammt, meine klammen Finger nesteln noch immer in der Innentasche. Ich sehe seinen verzweifelten Blick und muss kurz unter meiner Maske grinsen.
"Fahrscheinkontrolle"! Und dem Mann, der mich noch immer anstarrt, als käme ich von einer anderen Galaxie, könnte sicher warm ums Herz werden. Ich bin mir sicher, er hätte heute keine kalten Füße mehr. Und sein Blutdruck wäre viel zu hoch.
Als ich endlich meinen Kugelschreiber aus der Tasche befreit habe, wird der Herr mit der Pomadenfrisur ruhiger. In der leisen Bim höre ich seinen Stein unter die Sitze kullern. "Haha, Glück gehabt, gell?," denke ich bei mir. Wie wäre es mit einer Jahreskarte vom Christkind? Dann wären die Nerven geschont.
Wir erreichen die nächste Station, er blickt herum. Misst die neuen Zusteiger und lehnt sich wieder beruhigt zurück. Aus meinem Augenwinkel sehe ich, wie er mich beim Sudoku auflösen beobachtet.
Langsam habe ich das Gefühl in einer Weihnachtsstraßenbahn zu fahren. Es ist noch immer gespenstisch ruhig. Ich lasse meine Blicke durch den Wagen gleiten, nun sitzen, bis auf mich und einer jungen Dame vor der zweiten Tür, fast alle und starren oder klopfen auf ihr Handy. Das Schweigen der Lämmer bekommt eine ganz besondere Bedeutung.
Bei der nächsten Station steigt ein älteres Paar ein, ich nehme, nach deren liebevollen Umgang miteinander an ein Ehepaar. Sie diskutieren über Weihnachten, das Fest der Freude und Liebe.
"Aber wenn Horst neben Trude sitzt, dann streiten die wieder. Und Lilie ist nun Vegetarierin. Sofie trennt sich gerade von ihrem Freund. Markus hätte gerne Fisch, wie es in seiner Familie Brauch ist. Anna mag kein Wild und Thomas kommt mit seiner neuen Freundin, die ist überhaupt Veganerin. Und wegen Zora müssen wir einen Kinderpunsch machen. Ulli wiederrum wird sich wie jedes Jahr voll laufen lassen. Karina wird sich über den Baum beschweren und Christian die Zuckerl runternaschen. Und alle hängen wieder nur am Handy, keiner wird wieder was reden. Bis auf Christina, die wird einen Vortrag über gesunde Ernährung halten und Sebastian wie immer lautstark gestikulierend die Kekse aus der Hand reißen. Kaum ist die Bescherung vorbei, meckern alle über die Geschenke und die ersten fahren nach Hause."
Die Frau scheint über das familiäre Weihnachtstreffen zu sinnieren, während der Mann aus dem Fenster in die tanzenden Schneeflocken schaut, "mir ist es egal, ich möchte Vanillekipferl".
Männer denken manchmal so einfach.
Wir sind auf der Zielgeraden zur Endstation. Sie schaut ihn liebevoll an, tätschelt seine faltige Hand, "aber Vati, du bekommst doch eh Vanillekipferl. Einmal kann ich sie noch machen, dann bin ich zu alt dazu." Ich sehe ihr fürsorgliches Lächeln sogar unter der Maske hervorblitzen.
Er dreht sich zu ihr, schaut ihr in die Augen: "Mutti, das sagst du schon seit 60 Jahren und jedes Jahr werden sie besser."
Er macht eine kurze Pause. Und ich rieche plötzlich frische Vanille und schmecke süßen Staubzucker.
Dann setzt er fort: "Schon gut, dass es uns nicht so geht wie deiner Freundin Hildegard. Die wird wieder rotieren zu Weihnachten, nachdem, was du mir gerade von ihr erzählt hast."
Die alte Dame lächelt wahrscheinlich noch immer. "Da hast du Recht. Franko und unsere Tochter essen zum Glück wie jedes Jahr mit uns ganz einfach Bratwürstel und Sauerkraut. Und unser kleiner Enkel wird sich freuen, wenn wir das alte DKT aus dem Kasten holen. Da wird es wieder spät in der Nacht werden, Vati."
"Und die Vanillekipferl werden wieder zu wenig, Mutti."
Noch eine rote Ampel und wir steigen alle aus. Die Handynutzer drängen sich vor die alten Leute und stürmen in den Wiener Schnee. Alle gehen wir jetzt unsere Wege. Ich schaue dem Pärchen nach, wie sie Hand in Hand vorsichtig über die Straße gehen. Auf dem Weg in ihren Vanillekipferltraum.
Renate, 16.12.2022