Wenn die Natur die Besucher aussperrt
Stillfried, Auwanderweg, Weinviertel, Niederösterreich
Ich durchforste das Internet nach interessanten Wanderwegen rund um Wien. Raus aus der Stadt - rein ins Grüne ist unser Ziel.
Da sticht mir die Wanderkarte rund um die kleine Ortschaft Stillfried im Marchfeld ins Auge. Angeblich sind die Wege bestens gekennzeichnet. Sagen auch einschlägige Wanderplattformen im Netz. Nur so ist es leider nicht. Bereits beim Bahnhof deutet nichts auf Wanderwege hin. Wir verlassen uns einfach auf unseren Instinkt, deshalb kann ich unsere wirklichen Wege nicht nennen. Außerdem kam ohnehin alles anders als erwartet.
Dann mal ab ins Marchfeld
Heute ist es soweit. In Wien ist es grau und trüb, also ab in die Natur. Die Sonne bemüht sich hier in Stillfried zwar, aber der Nebel bleibt heute stärker. Aber für unser Vorhaben, einen Blick in die Au zu werfen, ist das Wetter perfekt. Mystischer und ruhiger kann es sonst kaum sein.
Die Natur liegt unter einem sanft grauen Mantel begraben. Dennoch strahlen die Herbstfarben bunte Farbkleckse in die ruhige Landschaft. Ein eigenartiges Gefühl nimmt uns in Beschlag. Als würden tausende Augenpaare auf uns gerichtet sein. Leisen Schrittes bewegen wir uns auf den Forstwegen weiter. Nur nicht abseits des Weges kommen. Die Natur in seinem Schaffen nicht stören. Keine menschlichen Abdrücke hinterlassen.
Immer wieder bleiben wir stehen. Liefern uns dieser bizarren Welt aus. Leise klicken die Fotokameras. Unsere Augen durchforsten das herbstlich gelichtete Dickicht, bis wir auf einmal vor Ehrfurcht erstarren.
Mir rinnt es kalt über den Rücken
Ich kann unser Glück nicht glauben. Ich glaube, wir haben in dieser Minute sogar aufs Atmen vergessen. Ganz vorsichtig, ohne jeglichen Laut zu verursachen, hebe ich meine Kamera zum Auge. Ein rasches Orientieren, ein kurzes Verschnaufen und Klick. Ich merke wie ich eine Gänsehaut bekomme.
So eine Begegnung hatte ich noch nie. Außer im Zoo. Mein Schatz steht steif und starr neben mir. Nur das Geräusch der Kamera ist zu hören. Für einen Bruchteil von Sekunden schauen wir uns alle ins Auge. Und dann taucht er wieder ab.
Unser erster Biber in freier Wildbahn. Und das um 10.00 vormittags. Ich bleibe noch stehen. In der Hoffnung, er taucht auf. Mein Schatz geht weiter und winkt mir auf einmal ganz aufgeregt zu. Ich schleiche mich an. Und wer mich kennt, weiß, dass ich normal eher der berühmte Elefant im Porzellanladen bin.
Und dann stehen wir beide da. Und sehen auf rund 20 m Entfernung Biber Nummer 2. Er sitzt auf einer kleinen Insel und putzt sich. Er scheint uns Menschen nicht mal zu registrieren. Und dann gleitet er ins Wasser und schwimmt genüsslich davon.
Ich bin so aufgeregt. So ein unheimliches Glück, das uns hier zu Teil geworden ist. Auch wenn die Fotos, wohl auch durch das nebelige Wetter und die Entfernung nicht hundertprozentig sind, wird uns das Erlebnis noch lange in Erinnerung bleiben.
Wir wandern weiter. Der Auwald scheint zu leben. Dort ruft ein Käuzchen, da klopft ein Specht, da singen Singvögel.
Wir kommen zur March, die natürliche Grenze zwischen der Slowakei und Österreich. Ein Kormoran am anderen Ufer ergreift noch die Flucht, ehe wir ihn wahrnehmen. Wir hören das Schlagen der Flügel am Wasser und sehen ihn noch empor steigen. Für ein paar Fotos sind wir zu langsam.
Der Weg führt neben dem relativ schnell fließenden Gewässer weiter. Bis, ja, bis...
Wir waten das erste Mal durch die March
Die March hat sich ihren Weg aus ihrem natürlichen Flussbett gebahnt und sich mit dem kleinen Gewässer daneben verbunden. Oder doch einfach nur ausgebreitet? Das Wasser am Weg reicht bis zu unseren Knöcheln. Aber unsere Wanderschuhe sind ohnehin schon Kummer gewöhnt, wir gehen weiter.
Der weitere Weg wirkt recht trocken. Frische Autospuren sind zu erkennen. Keine Angst, hier gibt es nur genehmigten Autoverkehr. Ich nehme an, zu den kleinen Fischerhütten bzw. die Ranger, Jäger und dgl.
Wahnsinn, wie ruhig die Aulandschaft uns einschließt. Als wären wir willkommene Freunde. Wir lauschen unterschiedlichen Vogelstimmen. Irgendwo über der March schnattern Enten im Flug. Im Wasser springt ein Fisch. Wir lauschen den säuselnden Geschichten der alten Bäume. Irgendwo im Unterholz knarrt es.
Und dann stehen wir an
Wir nähern uns zögernd und dennoch neugierig. Können wir wieder rechts oder links ausweichen oder müssen wir direkt durchs Wasser?
Nein, wir können und wollen nicht weiter. Der Weg steht komplett unter Wasser. Anscheinend hat sich die March hier bis weit in die Landschaft ausgebreitet. Und genau jetzt verstehen wir für uns, wie wichtig eine Aulandschaft ist. Wo sollte sonst das Wasser einen Ausweg finden? Eventuell in den Städten und Dörfern, wie beim letzten Jahrhunderthochwasser 2002? Wir stellen uns die Frage, wieso so wichtige Lebensräume der Mensch oft achtsam zu betonieren muss. Uns fasziniert das einzigartige Naturschauspiel und wir lassen der Natur ihren Raum und brechen den Weg ab. Zurück bis zu einer Abzweigung, welche, den Spuren zu entnehmen, auch von Autos befahren wird. Es ist zwar gatschig, aber nicht überflutet. Wir verlassen die Aulandschaft und landen wieder am Damm. Auf diesem geht es zurück bis zu unserem Auto.
Kraft getankt
Wir haben in den rund 2 ½ Stunden, die wir unterwegs waren, zwar sicher nicht viele Kilometer und schon gar keine Höhenmeter zurückgelegt, aber wir haben die Natur mehr denn je schätzen gelernt. Auf diesem recht kurzen Stück hatten wir unendlich viele schöne und prägende Erlebnisse. Die Natur hat uns, gerade jetzt in der so nervenaufreibenden Zeit, Kraft gegeben und uns für die kommende Woche gestärkt. Wir haben auch gelernt, dass man sich auf die Natur einlassen muss, ja sogar ein Teil von ihr werden muss, um dies alles erleben zu dürfen.
Unsere allgemeinen Wandertipps: Großstadtwanderer
Fotos von Fotografin Renate
Wien, 08.11.2020